Das Kind am Ende eines langes Krieges.
Wien 1945: Das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Zeit der russischen
Besatzung, gesehen mit den Augen der neunjährigen Christine. Ausgebombt
und mittellos kommt sie mit ihrer Familie in einer noblen Nazi-Villa
in Neuwaldegg unter. Nach der Kapitulation der deutschen Soldaten quartieren
sich die Russen im Haus ein. Alle fürchten sich vor den als unberechenbar
geltenden russischen Soldaten. Nur Christine nicht. (Produktionsnotiz)
Regisseurin Mirjam Unger behält in ihrer Adaption des autobiografischen
Romans "Maikäfer, flieg! Mein Vater, das Kriegsende, Cohn und ich" von
Christine Nöstlinger sowohl die inhaltliche Struktur als auch die Perspektive
der neunjährigen Christine bei. Derart kann auch sie permanent zwischen
Tragik und Komik changieren, ohne dabei das eine oder andere zu
forcieren. Christines Beobachtungen sind flink, humorig und in ihrer trotzigen
Naivität sehr weitsichtig. So muss Krieg gewesen sein, so lapidar im
Alltag, so stechend im Bauch, so lustig, weil man an einem Wundertag
den Teller ablecken durfte, ohne geschimpft zu werden, falls es einmal
doch etwas Gutes zu Essen gab.
Der Frühling 1945 war eine grausame Zeit. In den letzten 41 Tagen des Zweiten Weltkrieges kamen in Österreich bei Todesmärschen, Lynchmorden und Menschen- Treibjagden 30.000 Menschen um.1 Es kam zu einer Vermehrung der Gewalt, von deren Ausmaß in der Situation niemand genau Bescheid wusste. Je weiter die Alliierten vorrückten, desto fanatischer waren die Durchhalte-Parolen und desto grausamer war die Gewalt. Man wird später darüber als der Zeit der Endphaseverbrechen sprechen. In dieser Stimmung der sich verdichtenden Gerüchte über diese Geschehnisse und der Erschöpfung der Menschen nach so vielen Jahren der Angst und Entbehrung auf allen Seiten formiert sich also der Alltag der kleinen Christl. Christine Nöstlinger wird später über Frieden schreiben, dass es in ihr als Kind ein verwirrtes Staunen darüber gab, dass es ihn anderswo gibt. Es ist ihr Charakter, der es ihr ermöglicht, sich dann, wenn die Erwachsenen Angst haben und ihr keiner sagen kann, wie es weiter geht, kleine Wunder zu schaffen. Wie jenes, in dem Schutthaufen voller Trümmer und Toter vor ihrem ausgebombten Elternhaus just jene Schachtel mit unversehrten Christbaumkugeln zu finden, durch die sie sehen kann, um die Welt gleich wieder in eine Zauberspiegelwelt zu verwandeln.
Die Flucht mit ihrer Mutter (Ursula Strauss) und ihrer Schwester von Wien Hernals in eine sichere Villa in Neuwaldegg am Stadtrand bedeutet für sie der Schmerz, ihre Großeltern zurücklassen zu müssen bei den Sirenen, die unentwegt weitere Bomben ankündigen. Im neuen Quartier angekommen, sieht sie sich weiter mit der Ambivalenz als einzige Konstante konfrontiert. Man wartet auf die Russen. Die Angst der Mutter kümmert sie scheint’s wenig. Sie war sie gewöhnt. Doch das Haus und sein prächtiger Garten ist ein Wunderland mit Möbeln, Spiegeln, Lustern, Krimskrams und voller Abenteuer, die es zu erleben gilt.
Gleich werden neue Rituale erfunden. Es musste am riesigen Stahlgatter am Grundstückseingang geschaukelt werden. Und jeden Tag wird am Zaun entlanggelaufen, um Katzen zu entdecken oder Wehrmachtsautos – oder auch den ersten Russen. Wichtig war der Stecken in der Hand, damit die Zaunlatten rattern konnten. Ihre Schuhe sind an den Spitzen abgeschnitten worden, damit sie passen, Der schwer verletzte Vater (Gerald Votava) kommt, endlich, so lieb, so müde, so abwesend. Er ist aus dem Lazarett geflohen und muss versteckt werden. Christl hört, dass Deserteure erschossen werden. Da müssen dann noch einmal die geretteten Christbaumkugeln hervorgeholt werden, durch deren Zauberglas der fremd gewordene Mann im Schlaf genau betrachtet werden kann. Sie fängt das Wispern der Familie auf und auch das von der neu angekommenen Hausbesitzerin über daswas ist und das, was passieren kann. Dann sind sie da, die Besatzer, fremd, laut, bedrohlich, übergriffig, versoffen. Sie zerschießen das Lusterungeheuer. Sie sind freundlich zu ihr. Errichten ihr Quartier in ihrem Zuhause. Ausgerechnet in der Freundschaft zu dem russischen Koch Cohn (Konstantin Khabensky) findet sie Beschwichtigung. Er ist ein Außenseiter, er trinkt nicht. Er verschafft ihr mit seinem bruchstückhaften Deutsch Momente der Leichtigkeit in kleinen Gesten und Gesprächen. „Macht nix, macht nix“, sagt er ihr, sogar im Angesicht brutaler Demütigung und Gewalt, die ihm vor ihren Augen angetan wird. Mit ihm macht das, was sie nicht versteht, weniger Angst, sogar, als sie durch ihre Verspieltheit alle in Lebensgefahr bringt. Denn sie kann Cohn danach fragen. Sie kann sich auf das Wichtige konzentrieren, auf Fingerspiele, auf Geschichten, auf Lachen. Von ihm erfährt sie, dass der Krieg nun zu Ende ist. Und er hilft ihr letztendlich, bei dem Wunsch zu schauen, ob es ihren Großeltern in Hernals gut geht. Er wird sie später dorthin bringen. Sie wird ihn dann nicht mehr wiedersehen. Der Vater bringt sie zurück in die Villa, wo sie den Aufbruch der Russen erlebt. Dieser Film über die so persönliche Geschichte der Christine Nöstlinger dient vielleicht vordergründig der historischen Aufarbeitung des Endes des zweiten Weltkrieges und des Beginnes der Besatzung der Alliierten in Wien. Genauso aber bekommen wir damit ganz nah erzählt, womit wir es heute – 2016 - zu tun haben. In diesen Tagen der aus den Fugen geratenen Flüchtlingskrise, bar jeden Planes oder gelenkter Gesetzgebung unter Berücksichtigung von Humanität und Weitblick. Und was dies für die Menschen bedeuten könnte, die da so völlig des Selbstverständlichen beraubt in ihren Unterkünften in Österreich darauf warten, was ihnen das Schicksal wohl bescheiden wird.
Und so sitzt wohl auch heute irgendwo in Wien wieder so eine Christl in einer der Notschlafstellen für Schutzsuchende. Sie kommt vielleicht aus Syrien. Hat den Krieg im Kopf und die Flucht. Geht wacker in die neue Schule. Alle Eindrücke sind fremd und gehören noch sortiert. Sie saugt die Wortfetzen auf, freut sich, wenn sie schon etwas versteht. Jeden Tag kehrt sie zurück zu den Eltern, die ihr nicht von der Zukunft erzählen können. Weil das Gestern und das Heute noch lähmt und Angst besteht, dass das Morgen sich nie richtig anfühlen wird. Auch sie klammert sie sich an Schönes im Alltag. Wiederkehrendes, das sie kurz wohlfühlen lässt. Vielleicht ein Trafikant, der vor der Türe seines Geschäfts steht und ihr zuzwinkert. Oder eine Helferin von einer Organisation, auf die sie wartet, weil sie ihr jeden Tag ein Stück Schokolade mitbringt. Oder der Anblick des kleinen Plüschhundes auf ihrem Klappbett, der abgegeben wurde. Und der nun ihr gehört. Die Gedanken an die letzten Jahre streift sie ab, hebt sie für irgendwann einmal auf. Und schafft sich jetzt so die Erinnerungen, die wichtigen, die sie Hoffnung lehren und, wer weiß, später durch ein gutes Erwachsenenleben tragen sollen. Genau so wie einst die große Christine Nöstlinger.
Alle jene Meinungen und Betrachtungsweisen der Dinge, an die wir uns von unserer Kindheit an gewöhnt haben, wurzeln in uns so tief, daß es trotz aller Mittel, welche Vernunft und Erfahrung bieten, uns unmöglich ist, sie auszurotten. David Hume (1711 - 1776), schottischer Philosoph und Historiker
„Die Wochen aus <Maikäfer flieg>, die Wochen im Sommer 1945, als alles in Schutt und Asche lag, waren die aufregendsten und spannendsten und vielleicht sogar schönsten Wochen meiner Kindheit“ Christine Nöstlinger
Wien, am 16. Februar 2016
Heidi List